"So brachte der nordische Mensch Hahnemannn in den Wust der Krankheitslehren, die uns der chaotische Süden aufsuggeriert hatte, wieder deutsche Ordnung und Klarheit." (1)
Dieses Zitat aus der Deutschen Zeitschrift für Homöopathie aus dem Jahre 1933 steht für sich und seine Zeit.

Der blinde Fleck im Erinnern

200 Jahre Homöopathie geben uns so viel Grund zu feiern: diese sanfte, ganzheitliche, faszinierende Heilweise, doch ebenso soll es uns Anlass zur Ehrlichkeit und Kritik sein.

In der deutschen Geschichte gibt es einen blinden Fleck, was das Erinnern, Reflektieren und Stellung-beziehen angeht. Nicht weiter verwunderlich, dass wir diesem Verhalten auch in der Homöopathie begegnen:

Die Homöopathie zu Zeiten des Nationalsozialismus bietet uns keine Vorzeigehaltung - und nur ganz wenige haben Widerstand geleistet - und so ist es gerade für uns, praktizierende Homöopathen und Homöopathinnen, wichtig, uns mit diesem Teil der Geschichte auseinanderzusetzen und zu konfrontieren. Schließlich ist gerade die Homöopathie eine Lehre, die Wachsamkeit und das stetige Dazulernen fordert. Und das nicht nur in der Anamnesetechnik, sondern tatsächlich im ganzheitlichen Sinn.

„Blut und Boden“

Die Ideologie der Nationalsozialisten war ganz klar das "Herrenmenschendenken" mit der uneingeschränkten Emporhebung der "arischen / germanischen / keltischen Rasse", die "das deutsche Volk" darselbst verkörperte. Sie läßt sich inhaltlich auf die Formel von "Blut und Boden" reduzieren. Hierbei stand das "Blut" weit im Vordergrund, während der "Boden" sich besonders gut propagandistisch verwerten ließ. Aber die Rolle des "Blutes" ist es, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, denn es war das "Blut" auf dem die Nationalsozialisten ihre Gesundheitsideologie errichteten.

Das "Blut", mit dem ein ganzer Krieg begründet wurde, das "Blut", das plötzlich Ehen, Familien, Freundschaften zur Spaltung brachte, das "Blut" um dessentwillen gemordet wurde, das "Blut", das rein sein musste, das "Blut", das die Menschheit in lebenswert und -unwert trennte.

Das ideologische Fundament

Ein entscheidender Schritt, um die Gesellschaft nach 1933 unter der umfassenden und breiten Einbeziehung des gesamten Gesundheitswesens auf den totalen Krieg vorzubereiten, war die stufenweise Ausgrenzung chronisch Kranker, Behinderter, "Asozialer", Homosexueller, angeblich nicht "Erbgesunder" und -millionenfach- "rassisch" Fremder aus der Volksgemeinschaft der gesunden, starken Deutschen.

Wir begegnen den Auswüchsen eines biologistischen, sozialdarwinistischen Denkens. Damit war das ideologische Fundament für die Vernichtung von Millionen von Menschen geschaffen worden, die den rassischen und moralischenVorstellungen der Nationalsozialisten nicht entsprachen.

Die neuen PriesterInnen der biologischen Wissenschaft waren die AnthropologInnen und ErbforscherInnen, die mit der biologischen "Ausrichtung" der Ärzte und Ärztinnen beauftragt wurden, die später wiederum häufig in den Konzentrationslagern eingesetzt wurden, um Juden, Jüdinnen, Romas, Sintis, Kriegsgefangene, politische Häftlinge, Homosexuelle und Arbeitsunfähige für die Gaskammern auszuwählen.

Die dazu ausgebildeten Ärzte und Ärztinnen wurden zunächst militärisch gedrillt und mit körperlicher Arbeit bekanntgemacht, "um ihren Geist zu bilden" (2), dann kam der Unterricht, der vor allem von den VertreterInnen des öffentlichen Gesundheitswesens und den Ideologen der NS-Medizin durchgeführt wurde. Die wichtigsten Fächer waren Volksgesundheit, nationalsozialistische Gesundheitspolitik, Rassenpolitik, Fragen des deutschen Blutes, Ernährungsfragen, die Stellung der Sozialversicherung und Gesundheitsfürsorge.

Die "Neue Deutsche Heilkunde"

Die Verknüpfung einer gefährlichen Rassenideologie mit den alltäglichen Arbeiten im Gesundheitswesen machte die MedizinerInnen, sowie die NaturheilkundlerInnen zu einer mächtigen Instanz im NS-Regime, denn nicht zuletzt entschieden sie über die Wertigkeit von Leben.

Schon im Oktober 1933 erschien auf der Titelseite des "Deutschen Ärzteblattes" ein Aufruf des Reichärzteführers Gerhard Wagner, in dem er den Zusammenschluss der "biologischen Ärzte jeder Richtung" ankündigte und eine Überprüfung der Nützlichkeit aller außerschulmedizinischen Heilverfahren in Aussicht stellte.

Dieser Aufruf führte am 25.Mai 1935 zur feierlichen Gründung einer "Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde", der neben verschiedenen naturheilkundlichen Verbänden auch der "Deutsche Zentralverein homöopathischer Ärzte" angehörte. Parallel dazu schlossen sich volksheilkundliche Laienverbände wie der "Reichsbund für Homöopathie und Gesundheitspflege" in einer "Reichsarbeitsgemeinschaft der Verbände für naturgemäße Lebens- und Heilweisen" zusammen.

Die Vereinnahmung der Außenseiterverfahren durch die Nationasozialistische Gesundheitspolitik und ihre damit verbundene Aufwertung wurden zum einen durch ein vermeintlich unpolitisches Selbstverständnis ihrer AnhängerInnen ermöglicht, denen die Konsequenzen ihres Verhaltens nicht bewusst waren, die aber durchaus ihre eigenen Vorteile aus der Gesundheitspolitik der Nationalsozialisten zogen. Zum andern durch die NaturheilkundlerInnen, die sich mit den Zielen dieser "Neuen Deutschen Heilkunde" identifizieren konnten. Dabei ging es vor allem um "eine gesunde und naturverbundene Lebensführung zur Vermeidung von Krankheiten", woraus die Nationalsozialisten die "Pflicht zur Gesundheit" ableiteten.

"Pflicht zur Gesundheit" heisst in der Konsequenz: Aberkennung des Rechts auf Krankheit, Alter und Behinderung. In den deutschen Konzentrationslagern wurde diese Konsequenz durch die Vernichtung tausender Menschen umgesetzt.

Die „deutsche Volksgesundheit“

Die deutsche Volksgesundheit wurde zum wichtigsten Kernpunkt der NS-Propaganda. "Die 'neue deutsche Heilkunde' geht", so Reichsärzteführer Gerhard Wagner mit schonungsloser Offenheit , "nicht vom Problem der Heilmaßnahmen für die kranke Einzelperson aus, sondern von der Gesundung des dem Einzelmenschen übergeordneten Begriffes, des Volkes und der Rasse. Deshalb beginnt die neue deutsche Heilkunde beim Gesamtvolk, bei der rassenpolitischen und bevölkerungspolitischen Gesundung, pflegt die Vorbeugung und Verhütung von Krankheiten, und erst der letzte Teil der Problemstellung betrifft die Sorge um die Behandlung von den Krankheiten des einzelnen Menschen (3)

(Bild rechts: Vereinsfeier in Röhrsdorf bei Chemnitz, 1933)

Eine so verstandene "Neue Deutsche Heilkunde" sollte bei ÄrztInnen und Bevölkerung das rassenhygienische Prinzip durchsetzen, nach dem das Volksganze über den Interessen des Individuums steht.

Ganzheit und Volksverbundenheit

So war es natürlich die Absicht des NS-Regimes, die Naturheilkunde für ihre Interessen zu gewinnen: „Ihre Millionen zählende Anhängerschaft bot die einzigartige Gelegenheit, sozialdarwinistische, rassenhygienische und disziplinierende gesundheitserzieherische Forderungen massenpolitisch wirksam zu verbreiten, wenn es gelingen sollte, diese mit anerkannten naturheilkundlichen Anschauungen zu verbinden ...“(4)

Neben der Propagandamöglichkeit durch die naturheilkundlichen Verbände erschien deren ideologisches Konzept den Nationalsozialisten gut geeignet, da sie sich in ihrerer Berufung auf Naturgesetzlichkeiten, mit der Betonung von Ganzheit und Volksverbundenheit, wie auch in ihrer Wissenschaftsfeindlichkeit in der Nähe nationalsozialistischer Vorstellungen befanden.

Die Wirtschaftlichkeit

Es wurde aber auch ein praktischer Nutzen erwartet: Oftmals waren die Außenseiterverfahren billiger, vor allem die Selbstbehandlung ihrer AnhängerInnen trug zu einer Kostenersparnis bei. Für die Homöopathie führte Ministerialrat Eugen Stähle in einem Aufsatz über "Vierjahresplan und Homöopathie" aus: "Bei aller Umstrittenheit der feinstofflichen Heilkunde gibt es aber zwei unbestreitbare Tatsachen, die die Bedeutung der Homöopathie im Rahmen des Vierjahresplanes unterstreichen und die man auch als Nichthomöopath feststellen darf: 1. Wir haben nicht eben wenige Volksgenossen, denen es Glaubenssache ist, sich in Krankheitsfällen der Homöopathie zu bedienen. 2. Die homöopathische Verabreichung ist in den meisten Fällen die wirtschaftlichste Form der Anwendung eines Heilmittels, wenigstens soweit es sich um die echte, einfache Hahnemannsche Verordnung handelt." (5)

Die Anpassungsbereitschaft

Insgesamt betrachtet wurde der Homöopathie weniger Anerkennung entgegengebracht als der Naturheilkunde an sich, was wohl dadurch begründbar ist, dass es sich bei der Homöopathie um ein therapeutisches Verfahren handelt, in dem vorbeugende Maßnahmen und Regeln zur allgemeinen Lebensführung nur von untergeordneter Bedeutung sind. Die Begeisterung und Anpassungsbereitschaft war jedoch angesichts der angekündigten Überprüfung und Neubewertung ihrer Verfahren bei NaturheilkundlerInnen und HomöopathInnen gleich ausgeprägt und ist hinsichtlich der jahrzehntelang erlebten Verächtlichmachung durch die Schulmedizin erklärbar. Seit ihrer Begründung durch Samuel Hahnemann im Jahre 1796 wurde die Homöopathie immer wieder von Seiten der sogenannten Schulmedizin und den anerkannten Naturwissenschaften angegriffen und diffamiert. Die schnell verfassten Ergebenheitsadressen an die neue Staaatsführung entsprangen dem Wunsch, die Gesundheitspolitik der Zukunft maßgeblich mitgestalten zu können und dem jeweiligen Heilverfahren zum Durchbruch zu verhelfen. (Hom. im 3. Reich; S.88)

Auch die homöopathischen Laienvereine bekannten sich zunächst häufig begeistert zur nationalsozialistischen Bewegung, die ihnen endlich die ersehnte staaatliche Anerkennung zu bringen schien. Ausdruck dessen war die Ergebenheitserklärung des 60. Verbandstages des Landesverbandes an den sächsischen Reichsstatthalter Mutzschmannn vom 6.August 1933. Darin bekundet der Verband, daß er "jederzeit bereit ist, seine gesamten Kräfte im Sinne des nationalsozialistischen Aufbaus für die Volksgesundheitsbewegung einzusetzen".(6)

Die Laienbewegungen waren von Anfang an die wichtigste Basis der Homöopathie. Sie verstanden sich nicht allein als lokale Selbsthilfegruppen, sondern wollten vielmehr ein selbstbewusster Teil einer medizinischen Richtung sein, die neue Erfahrungen und Behandlungsansätze hervorgebracht hatte. So war es dann während dem Nationalsozialismus um so gefährlicher, dass sich diese breite Basis dem nationalsozialistischem Regime nicht nur unterordnete, sondern es auch noch festigte und mitvorantrieb.

Die HeilpraktikerInnen

In meinen Ausführungen beziehe ich mich grösstenteils auf Zitate aus ärztlichem Mund, was nicht heißen soll, dass HeilpraktikerInnen weniger angepasst bzw verantwortlich gewesen wären.. Es gibt einfach zu wenig Quellen speziell über das Verhalten der homöopathischen HeilpraktikerInnen. Allgemein läßt sich über den Stand der HeilpraktikerInnen sagen, dass es einen jahrelangen Konkurrenzkampf zwischen HeilpraktikerInnen und ÄrztInnen gegeben hat, aus dem heraus 1939 das Heilpraktiker-Gesetz entstanden ist, das noch heute Gültigkeit hat. Dadurch wurde einerseits zwar der Heilpraktikerberufsstand anerkannt, andererseits aber die freie Heilkunde verboten und die Ausbildung von Nachwuchs untersagt. Der letzte Punkt wurde 1945 in der BRD aufgehoben, in der DDR war die Ausbildung zum Heilpraktiker / zur Heilpraktikerin jedoch nicht möglich.

Mit Beginn des Nationalsozialismus wurden die HeilpraktikerInnen gebraucht, um die medizinische Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, nachdem jüdische, sozialistische und andere verfolgte ÄrztInnen Berufsverbot erhalten hatten.

So meinte die Heilpraktikerschaft dann auch ihre „rassische Zuverlässigkeit“ beweisen zu müssen. In ihrem Verbandsorgan veröffentlichte sie 1934: „Juden gab es keine oder nur vereinzelt unter den Heilpraktikern. Das beweist, dass der Jude jenes „Sichhineinfühlen“ in die Seele des Kranken, in die Seele des Andersrassigen nicht aufzubringen vermag, wie es unter allen Umständen notwendig ist.“ (7)

Es ist nicht so, wie manche Heilpraktikerverbände gerne glauben machen würden, dass ihre HeilpraktikerInnen Opfer und damit „naturgegeben“ auch im Widerstand gegen das NS-System gewesen seien. Auch im Namen der Naturheilkunde gab es Menschenversuche an KZ-Häftlingen. Speziell in der Homöopathie waren dies „Arzneimittelversuche am Gesunden“.

Unter den HeilpraktikerInnen gab es genau das selbe Mitläufertum wie in großen Teilen der Bevölkerung. Letztlich trugen die AnhängerInnen der Naturheilverfahren somit (oftmals) ungewollt zur Stabilisierung des Systems von Heilen und Vernichten im Nationalsozialismus bei. Heute sprechen wir von Mittäterschaft.

Die Wenigen

Es ist schön, daneben auch einzelne Homöopathen nennen zu können, die die NS-Zeit im Widerstand oder im Exil erlebt haben, wobei ich hoffe, dass diese Aufzählung nicht vollständig ist: Julius Gescher, Karl Saller, Otto Buchinger, Otto Leeser. (8)

Der jüdische Arzt Otto Leeser wurde zum Beispiel 1933 vom deutschen Ärzteverband ausgeschlossen und floh nach England. Nach Kriegsende kehrte er zurück, um seine Arbeit am Stuttgarter homöopathischen Krankenhaus fortzusetzen.

Die angepasste homöopathische Ideologie

Die Ideologie der angepassten HomöopathInnen läßt sich aus folgenden Zitaten ablesen: In einem Brief an Adolf Hitler vom 6. August 1933 zitiert Dr. Hans Wapler (Schriftleiter des Homöopathischen Zentralvereins) zwei Sätze aus einer 1919 verfassten Abhandlung: "Das Ähnlichkeitsgesetz gilt sogar in Politik und Völkerleben. So wird zum Beispiel das deutsche Volk ein Sklavenvolk bleiben und nicht wieder hochkommen, wenn es nicht lernt, dem Nationalbewusstsein der Polen, Tschechen, Engländer und Franzosen ein ähnliches völkisches Deutschbewusstsein entgegenzusetzen." Wapler verwandte das Adverb ‚völkisch‘ noch in seiner ursprünglichen Bedeutung von‚national‘. Bei den Nationalsozialisten wurde dieser nationale Aspekt noch weiter zum rassistisch-antisemitischen pervertiert.

A. Pfleiderer bemerkt in seinem Aufsatz "Die vaterländische und völkische Bedeutung der Homöopathie": "Die Stärke der Lebenskraft eines Volkes hängt in erster Linie von dem Maße ab, in dem dasselbe mit der Mutter Erde und mit der Natur verbunden ist ... Ich glaube an nichts so fest als an das Wort von Jesus Christus: 'Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen'!" (10)

1935 amplifizierte Pfleiderer seine Bemerkungen von 1933 und beanstandete sogar Ehen zwischen Angehörigen verschiedener deutscher Stämme, z.B. Ostpreußen und Schwaben oder zwischen Blonden und Dunkelhaarigen. Die Natur sei nicht für Mischungen und versuche, sie zu verhindern. (11)

In einem Diskussionsbeitrag zum Thema "Hahnemann ein Jude?" meint Erich Haehl, der Sohn des Hahnemannbiographen: "Die Homöopathie ist eine mit der Natur verbundene Heillehre, sie bezieht ihre Arzneimittel aus der Naturwelt und hier vorzugsweise aus dem deutschen Pflanzenreich. Wo ist also hier etwas von Artfremdheit zu finden ???" (12)

Abgesehen von den falschen Inhalten dieser Aussage, zeigt sich auf welch trivialem Niveau die Anbiederei und Heuchelei stattfand.

1938 schrieb Hanns Rabe (1.Vorsitzender des Homöopathischen Zentralvereins und NSDAP-Mitglied): "Die Homöopathie erfasst den Einzelmenschen in Bezug auf rassische und erbbiologische Anlagen ... Zur Verhütung der Entwicklung krankhafter Anlagen hat sie bewusst und erfolgreich beigetragen." (13)

Hier wird Namensgleiches, aber unter sich völlig Verschiedenes, zusammengesponnen: Die homöopathische "Eugenik", die als eugenische Kur (Vannier) allein auf Verbesserung der individuellen Konstitution zielt und die NS-Eugenik, welche durch das Gestz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses und durch die Nürnberger Gestze legalisiert, "Ausmerze" anstrebte.

Die Eugenik

Zur Begriffserklärung: "Eugenik" ist die Lehre von den guten bzw. schlechten Genen, eine Selektionslehre. Sie geht zurück auf Francis Galton, einen Vetter Darwins, der diese Theorie 1883 auf der Basis des Sozialdarwinismus schuf. Der Sozialdarwinismus ist eine biologische Theorie, die komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge, wie z.B. Armut, auf die Biologie des Menschen reduziert und damit der Legitimierung des jeweiligen Herrschaftssystems dient. (14)

Die "Eugenik" war keine "deutsche" Spezialität, sie wurde jedoch während dem Nationalsozialismus am "gründlichsten" umgesetzt. Das bedeutete für die als "minderwertig" Etikettierten Asylierung, Zwangssterilisierung und für viele auch die körperliche Vernichtung, die "Ausmerzung" im Rahmen der "Euthanasie". In diesem Zusammenhang ist die Geschichte der eugenischen Indikation bei der Abtreibung sehr interessant, da auch sie auf das Gedankengut der Nationalsozialisten zurückgeht.

Die eugenische Kur in der heutigen Homöopathie ist nach wie vor ein sensibles Thema. Sie fand ihre Wurzeln Anfang des 20. Jahrhunderts, zeitgleich mit der Manifestierung des sozialdarwinistischen Denkens.

Die eugenische Kur im Sinne einer Selektion einzusetzen – egal ob positiv oder negativ – ist ethisch gesehen absolut verwerflich!

Und auch die Stabilisierung einer Konstitution ist nicht gleichbedeutend mit der Anpassung eines Gesundheitszustandes an die gesellschaftliche Norm, die auch heute noch die Werte von immerwährender Jugend, Schönheit und Leistungsfähigkeit beinhaltet. Für die homöopathische Sichtweise ist ein ganzheitliches Denken und „Mitleiden“ mit dem Patienten / der Patientin Voraussetzung für gute Heilarbeit. Unsere Aufgabe ist es, das Individuum zu sehen, zu unterstützen und zu begleiten. Samuel Hahnemann, der Begründer der Homöopathie, formuliert dazu ganz einfach und deutlich: „Des Arztes höchster und einziger Beruf ist, kranke Menschen gesund zu machen, was man heilen nennt“ (§1 des Organons). (15)

Die Institutionalisierung der Homöopathie

Die Homöopathie konnte sich während des Nationalsozialismus institutionalisieren. Es gelang ihr zwar nicht, sich fest zu etablieren, doch erreichte sie eine wesentliche Stärkung ihrer Position. Das fand seinen Ausdruck beispielsweise auch darin, daß Rudolf Heß als Reichsminister die Schirmherrschaft für den 1937 in Berlin veranstalteten 12. Internationalen Kongress der „Liga Homoeopathica Internationalis“ übernahm.

In mehreren Städten wurden homöopathische Krankenhausabteilungen eröffnet, darunter die Städte Berlin, Bremen, Nürnberg, Wuppertal, Hamburg, München und Leipzig.

Auch die Ausbildungsmöglichkeiten in der Homöopathie wurden deutlich verbessert; darüber hinaus führte die Reichsärzteordnung offiziell die Bezeichnung eines ‚Arztes für Homöopathie‘ ein.

Die homöopathische Presse dehnte sich aus: neben der weiterhin erscheinenden ‚Deutschen Zeitschrift für Homöopthie‘ und der ‚Allgemeinen Homöopathischen Zeitung‘ fanden homöopathische Beiträge vereinzelt auch Eingang in die ‚allopathische‘ Presse; vor allem in der Zeitschrift ‚Hippokrates‘ wurde umfangreich über die Homöopathie berichtet.

Der grösste Erfolg war jedoch: die HomöopathInnen wurden in der schulmedizinischen Presse nicht mehr angegriffen und als KurpfuscherInnen bezeichnet.

Die schulmedizinische Überprüfung

Allerdings veränderte sich das Bild in der Öffentlichkeit schon schnell wieder: die durch Gerhard Wagner (Reichsärzteführer) 1933 angekündigte Überprüfung der Außenseiterverfahren fand für die Homöopathie kein befriedigendes Ergebnis. Bei den mannigfachen Arzneimittelüberprüfungen ergab das Forschungsergebnis von Paul Martini, einem Schulmedizinier: „die Arzneimittelprüfungen der Homöopathie könnten den Ansprüchen der Wissenschaft nicht genügen und die bei solchen Prüfungen auftretenden Symptome seien in erster Limie Ausdruck der besonderen Suggestion, der der einzelne Prüfer unterliege, nicht aber Eigenschaften des geprüften Mittels.“ (16)

Obwohl diese Thesen auf der Hauptversammlung des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte einstimmig abgelehnt wurden, erhielten sie ihre Bestätigung mit den Untersuchungsergebnissen durch das Reichsgesundheitsamt von 1936-1939.

Den HomöopathInnen hatten diese Untersuchungen überdeutlich gemacht, dass eine Überprüfung ihrer Verfahren durch die Schulmedizin für sie ungünstige Ergebnisse einbringen konnte.

Die Euphorie der ersten Stunde schwand, und mit Fortschreiten des Krieges stellten auch die homöopathischen Laienverbände ihre Arbeit zum Teil ganz ein, einige lösten sich auf, und in anderen Vereinen gab es lediglich keine Veranstaltungen mehr.

Unsere Verantwortung

Nach wie vor ist die Homöopathie ein Außenseiterverfahren und doch ist sie uns, den praktizierenden Homöopathen und Homöopathinnen die wertvollste Heilmethode. Sie ist uns Philosophie, Glaube und Wissenschaft. Nur durch die Mitwirkung der praktizierenden HomöopathInnen im Nationalsozialismus war es möglich, dass sie dermaßen mißbraucht und propagandistisch ausgeschlachtet werden konnte. Gerade in einer Zeit, in der rechtes Gedankengut wieder erstarkt, ist es unsere politische Verantwortung, dies nie wieder zu ermöglichen! Für diejenigen, die an dieser Thematik mehr interessiert sind, bietet sich der Ausstellungskatalog des Hygienemuseums Dresden: „Homöopathie – eine Heilkunde und ihre Geschichte“ zum Weiterlesen an.

Verfasserin:
Gudrun Barwig, Praxis: Klassische Homöopathie für Frauen und Kinder, Lindengasse 36, 90419 Nürnberg, Telefon 0911-367051


Veröffentlichung:
‚Naturheilpraxis 12/96‘ Pflaum Verlag München


Bildnachweis:
Beide Bilder sind dem Ausstellungskatalog des Deutschen Hygienemuseums Dresden: „Homöopathie - Eine Heilkunde und ihre Geschichte“ mit freundlicher Genehmigung der Projektleitung ’Homöopathie‘ entnommen.

Quellennachweis:

  1. Deutsche Zeitschrift für Homöopathie 12 (1933) S.289 ff, Aufsatz von R.Oemisch
  2. Lilli Segal: Die Hohenpriester, S.109 ff
  3. Detlef Bothe: Die Homöopathie im Dritten Reich, Ausstellungskatalog des Hygienemuseums Dresden (Zitat aus: Volks-Gesd-Wacht 1937, S.99)
  4. A.Thom: Medizin unterm Hakenkreuz, VFB Verlag Volk und Gesundheit, 1989
  5. Lickint, Fritz, Vierjahresplan und Homöopathie. In: Dtsch. Apothek. Ztg. 1936, S.1874, in Hippokrates 8 (1937) S.462
  6. Der Laienhomöopath, Nr.17, 1.Oktober 1933 aus Homöopathie-Katalog S.65
  7. Lachesis-Rundbrief 8/1990, Petra Rohowsky: Anpassung oder Widerstand
  8. F.Kudlien: Ärzte im Nationalsozialismus, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1985
  9. B.Müller-Hill: Tödliche Wissenschaft, Rowohlt, Reinbeck 1984
  10. K.Saller: Die Rassenlehre des Nationalsozialismus, Wissenschaftl. Verlagsges., Darmstadt
  11. F.H.Schmeer: Die travestierte Homöopathie, Allgemeine Homöopathische Zeitung 1 (1988)
  12. Deutsche Zeitschrift für Homöopathie 13 (1933) S.130
  13. Deutsche Zeitschrift für Homöopathie 16 (1936) S.58
  14. Deutsche Zeitschrift für Homöopathie 12 (1933), Erich Haehl
  15. H.Raabe: Die Bedeutung der Homöopathie für ärztliches Handeln, Hippokrates 1938
  16. T.Degener, S.Köbsell: „Hauptsache, es ist gesund“?, Konkret Literatur Verlag, HH 1992
  17. S. Hahnemann: Organon der Heilkunst, Haug-Verlag, Heidelberg 1987
  18. Paul Martini in einem Vortrag auf der 100. Hauptversammlung des „Deutschen Zentralvereins Homöopathischer Ärzte“, in D.Bothe: Die Homöopathie im Dritten Reich,
  19. Ausstellungskatalog des Hygienemuseums Dresden

Weitere Literatur, auf die ich mich bezogen habe:

  • Ausstellungskatalog des Dresdener Hygienemuseum: „Homöopathie – eine Heilkunde und ihre Geschichte“, Edition Lit. europe, 1996
  • S.Fahrenbach, A.Thom: „Der Arzt als Gesundheitsführer“, Mabuse Verlag, Frankfurt 1991
  • .Dinges: „Weltgeschichte der Homöopathie“, C.H.Beck Verlag, München 1996

Veröffentlichung:
‚Naturheilpraxis 12/96‘ Pflaum Verlag München