Schlangen üben einen faszinierenden, manchmal sogar magischen Bann auf viele Menschen aus. Mit der Mythologie im Hintergrund begegnen wir ausdrucksstarken Bildern, die uns das Begreifen der homöopathischen Schlangenbilder noch einmal unter anderen Gesichtspunkten ermöglichen.

Mythologie
In der Mythologie repräsentiert die Schlange „Lebenskraft, Symbol der Schöpfungskraft, Inbegriff der Ehrfurcht vor dem Leben auf dieser Erde. Nicht der Körper der Schlange galt als heilig, sondern die Kraft, die von diesem zusammengerollten Geschöpf über seine eigenen Grenzen hinaus ausstrahlt und die umgebende Welt beeinflusst. Die Schlange war schon immer etwas Urtümliches und Geheimnisvolles, das aus den Tiefen der Wasser kam, wo das Leben beginnt. Ihre periodische Erneuerung durch das Abstreifen der alten Haut und den Winterschlaf machte sie zu einem Symbol für die Kontinuität des Lebens und die Verbindung zur Unterwelt.
Ihr Einfluss wurde jedoch nicht nur im Bereich der Lebensschöpfung wahrgenommen, sondern auch in der Fruchtbarkeit und im Wachstum und vor allem in der Erneuerung absterbender Lebenskraft.“ (Marija Gimbutas: Die Sprache der Göttin: S.122)
Die historische Verehrung und Achtung, die Schlangen -in manchen Regionen auch heute noch- entgegengebracht wurde, lässt schließen, welch machtvolle Position sie in alten Zeiten innehatten: Hausschlangen lebten unter den Türschwellen, wurden mit Milch gefüttert und sogar in den Wohnräumen geduldet. Eine Schlange im Haus bedeutete Glück und Wohlergehen; sie sicherte die Fruchtbarkeit der Familie, ihrer Nutztiere und ihres Ackers. Sie war die Hüterin des Hauses, konnte hellseherisch die Zukunft der Menschen voraussagen und verborgene Schätze aufspüren.

Wandel des Weltbildes
Irgendwann in den letzten 2000 Jahren wandelte sich diese Haltung den Schlangen gegenüber. Die Tiere wurden plötzlich mit menschlicher Gewalt konfrontiert: sie wurden vertrieben, bedroht, umgebracht, in vielen Gegenden völlig ausgerottet. Das ökologische Gleichgewicht wird weiter zerstört. Die Rückzugsräume werden kleiner.
Für das direkte destruktive Verhalten der Menschen den Schlangen gegenüber gibt es sicherlich verschiedene Erklärungsansätze. Hier in Europa ging die Schlangenverfolgung jedoch mit der Christianisierung einher. Die Schlange wurde von der Kirche neu definiert: als Symbol des Bösen, der sündigen Verführung, der zügellosen Sexualität. Das matristische Weltbild wurde in ein patriarchales gewandelt und wo der Widerstand zu groß war, mit Gewalt zerstört. Darstellungen, wie die christliche Maria mit bloßen Füßen die Verführerin Schlange zertritt, sind auch heute noch in vielen Kirchen zu finden. Die Göttin tritt ihre eigenen Symbole.....
Viele Menschen sehen heute in der Schlange primär die Gefahr, das Fremde, das Gefährliche, das Unkontrollierbare. Die ängstliche Haltung steigert sich all zu oft zur Panik und Phobie.

Diese beiden Aspekte der Schlangenwahrnehmung: die totale Faszination und Ehrfurcht auf der einen Seite, die panische Angst bis hin zum Ekel, zur Phobie auf der anderen Seite ziehen sich durch die homöopathischen Schlangenmittelbilder durch, nicht unbedingt auf die Schlange bezogen, sondern auf das Leben an sich, die eigene Existenz, das Universum.
Das mehrjährige Beobachten von Heilreaktionen auf Schlangenmittel stellte mir die Frage nach den Zusammenhängen dieser inneren Wahrnehmungen meiner Patientinnen und der gesellschaftlichen Zuordnung der Schlangenthemen. Spannenderweise entdeckte ich viele Parallelen und ein Thema, das Frauen und Schlangen gemeinsam haben: kollektive oder auch individuelle patriarchale Gewalterfahrung und Verfolgung.

Spaltung
Mit diesem gemeinsamen Hintergrund von Schlangen und Frauen wurde ich im ursprünglichen mythologischem Schlangenverständnis fündig, was die Essenz der homöopathischen Schlangenmittel angeht: die innere Zerrissenheit spiegelt sich in Form der inneren Ahnung / des inneren Wissens um die Heiligkeit / Ganzheit des Seins und gleichzeitig die Wahrnehmung einer gewaltvollen / patriarchalen Lebensrealität, die diesem inneren Wissen völlig konträr entgegensteht. Eine Form der Spaltung findet statt.
Dies ist der Hauptgedanke, der uns zu den Schlangenmitteln allgemein führt: das Gefühl, ausgestoßen zu sein, verlassen zu sein, hinausgeworfen aus dem Paradies, völlig isoliert in der eigenen Wahrnehmung, und gleichzeitig die Sehnsucht nach dem ursprünglichen, ganzen, harmonischen Zustand, der irgendwo tief drin erinnert wird. (Differentialdiagnose: Nachtschattengewächse / Drogen: sie sind wirklich verloren, verlassen vom ganzen Universum, ohne Erinnerung an eine Ganzheit).
Bei Vipera berus (Kreuzotter) kann das Gefühl der verlorenen Existenzberechtigung besonders gut beobachtet werden. „Ich ertrage es nicht mehr, Deutsche zu sein, es waren ja die Väter....“ oder auch die Qual mit Schuldgefühlen und absoluter Wahrheitsfindung bis zur Selbstvernichtung. Vipera fühlt sich von Gott und der Welt verlassen und ausgestoßen, aber sie weiß um den Zustand der Einheit, den sie verloren hat. (Jürgen Becker, Vortrag: Samuel Hahnemann Schule, Berlin). Gerade Frauen, die mit jeglicher Form von patriarchaler Gewalterfahrung zu tun haben, erleben diesen Zwiespalt oft besonders extrem.

Machtvolles Potential
Schlangenmittel eignen sich häufig für Frauen, die für spirituelle Wege besonders empfindsam und offen sind. In der Materia Medica ist unter den Schlangenmitteln von einer „religiösen Entwurzelung“ zu lesen – doch sind sie am Ende nur christlich entwurzelt? Ich finde es sehr spannend, den homöopathischen Schlangenmitteln noch einmal eine andere, tiefere, ältere Bedeutung zukommen zu lassen. Auch hier weist der mythologische Blick die Richtung: Schlangen standen für Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Eigenmacht. Diese Werte wiederum haben viel mit Eigenliebe zu tun. Mit Frauen, die patriarchale Gewalterfahrungen erlebt haben, arbeite ich ganz stark Ressourcen stärkend, die Eigenliebe weckend und den Weg in die Eigenmacht findend. Für viele ist die Schlange als Symbol bei diesem Prozess Unterstützerin und Begleiterin.

Überlebensstrategien
Traumatisierten Frauen bieten die Schlangenmittel verschiedene Überlebensstrategien: zum Einen das Erstarren - nichts mehr wahrnehmen wollen - und zum Anderen das extreme über Grenzen gehen, um sich und den Körper doch wieder spüren zu können. Das kann das exzessive Ausleben von sexuellen Beziehungen sein, Extremsport, wie Freeclimbing, der Reiz, sich besonders gefährlichen Situationen auszusetzen, von Naturgewalten besonders angezogen zu werden, Vulkanausbrüche, Erdbeben usw. Bei Cenchris contortrix, der Mokassinschlange, ist dies das Grundthema: sie muss ganz nah an den Abgrund heran, um sicher zu wissen, dass sie der Gefahr widerstehen kann.

Tod und Grenzerfahrungen
Die Auseinandersetzung mit dem Tod ist ein weiteres ganz großes Thema der Schlangenmittel. Die Furcht vor dem Tod einerseits: „Da ist nichts, ich werde dort alleine sein, kein Schutz, keine Liebe, keine Beziehung ist möglich, ein Loch". (Massimo Mangialavori: Die Schlangen - Familie der Reptilien). Die Konfrontation mit ihm andererseits: Interessanterweise sind Frauen und Mädchen, die mit den Schlangenmitteln zu tun haben, immer wieder mit Extremsituationen, in denen sie (als Beobachterinnen/Zeuginnen) mit dem Tod, mit Todesgefahr, mit Gewaltverbrechen, heftigen Verkehrsunfällen etc konfrontiert sind. Als ob sie dieses Thema magisch anziehen würden. Oder anders formuliert, als ob sie die Gabe in sich tragen, genau in diesen Situation Mittlerinnen zwischen den Welten zu sein. In unserer Kultur ist das für viele etwas befremdlich. In anderen Kulturen ist die Seelenbegleitung eine Selbstverständlichkeit, die Kommunikation mit den Anderswelten. Ich vermute, dass die Schlangenmittel hier eine ganz große Unterstützerinnenrolle einnehmen.

Vor allem auch im Hinblick auf ihre mythologische Geschichte.
Einige meiner "Schlangenpatientinnen" sind sich ihrer schamanischen Fähigkeiten bewusst und können sie aktiv ausleben. Die "Schlangenpatientinnen", die sich davor verschließen, oder zu sehr in ihrer Starre gefangen sind, beginnen häufig in einem massiveren Ausmaß, körperliche oder seelische Beschwerden zu entwickeln. Manchmal kommt es mir so vor, als wären die homöopathischen Schlangenmittel Initiationsmittel für Frauen, die sich in dieser Übergangsphase zwischen Nichtwissen/Ahnen und Erkennen/Handeln befinden.

Sexualität
Neben der Dualität, der Spaltung und dem Todesbezug ist auch die Sexualität ein wichtiges Schlangenthema: sie kann auf eine sehr exzessive und selbst bestimmte Art ausgelebt werden. Häufig wird Beziehung ausschließlich über Sexualität definiert, was für manche kalt erscheinen mag. Die Schlange differenziert jedoch zwischen der körperlichen Lust und den anderen Beziehungsaspekten. Viele PartnerInnen kommen damit nicht klar, was häufig oberflächliche Beziehungen, Affären oder ständig wechselnde PartnerInnen zur Konsequenz haben kann. In der Materia medica wird dieses Verhalten unter „Beziehungslosigkeit bzw. Beziehungsunfähigkeit“ aufgeführt. Bei einigen meiner Patientinnen ist die Heilreaktion oftmals eine völlig neue Definition ihrer sexuellen Bedürfnisse.

Sexuelle Gewalterfahrungen
Erlebte sexuelle Gewalt ist ein häufiger Auslöser für viele so genannte „Schlangensymptome“. Das können körperliche und seelische Zustände sein, die einem Schlangenmittel zugeordnet werden. Jede Frau entwickelt ihre eigenen Überlebensstrategien. Die Strategien der Schlangen sind zum Einen das Erstarren und der Rückzug, zum Anderen das offensive nach Außen gehen, mit aktiver Verteidigung bis hin zur andauernden Angriffshaltung und dem ständigen Impuls Grenzen setzen und spüren zu wollen.
Cenchris contortrix hat Vergewaltigung als Causa im Arzneimittelbild.

Die Schlange als Mittlerin
Bei der homöopathischen Mittelwahl führen mich die Patientin, ihre seelischen, geistigen und körperlichen Symptome, sowie meine Intuition und meine Bücher... Speziell bei Patientinnen, die ich mit einem Schlangenmittel in Verbindung bringe, und die ich im Verlauf des Anamnesegesprächs zu ihrem Schlangenbezug befrage, beobachte ich eine große Offenheit für die spirituelle oder auch energetische Ebene der Heilarbeit. Sie reagieren in der Regel sehr überrascht und berührt. Als ob ich einen Schlüssel zu ihrer Seele gefunden hätte, erzählen sie mir plötzlich ganz bedeutsame Symptome, Erinnerungen, Empfindungen etc, die ich ohne das Schlangenthema vermutlich nie oder erst viel später im Behandlungsverlauf erfahren hätte. Einige haben tatsächlich zur Schlange einen besonderen Bezug. Vielleicht ist sie ein Krafttier, eine Verbündete. Wenn ich mit meinen Patientinnen auf diesen Ebenen homöopathisch arbeite, erlebe ich immer ein Gefühl des Ganzseins, Heilseins, das nur in ganz speziellen Momenten der Heilarbeit möglich ist: ein Blick in die Anderswelten, mit der Schlange als Mittlerin.

Die geistige Essenz der Schlangenmittel

  • Bothrops lanceolatus (Lanzenotter)verschließt ihre Sinne: kann nicht mehr sehen, sprechen, ringt nach Worten
  • Cenchris contortrix (Mokassinschlange) hat sich abgespalten, sie lebt wie in Trance, hat keinen Orientierungssinn, verzögerte Zeitwahrnehmung
  • Crotalus horridus (Klapperschlange) ist die Schlange, die in völliger Isolation lebt. Sie ist aus allem draußen, hat den extremsten Rückzug.
  • Ihre Schwester Crotalus cascavella (Waldklapperschlange) hat als Selbstschutz das Kämpfen entwickelt: Angriff ist die beste Verteidigung.
  • Dentro apsis (Schwarze Mamba) befindet sich in einem Zustand der vollkommenen Sinnlosigkeit: alles oder nichts.
  • Elaps corallinus (Korallennatter) ist Kind geblieben, naives Verkriechen, besonders Verstecken im Wald bessert.
  • Lachesis muta (Buschmeister) hat Angst, tritt aber in Konkurrenz und kämpft. Sie möchte dauernd irgendwohin und empfindet es als Befreiung alles zu sagen.
  • Naja tripudians (Kobra) schwankt zwischen Lust und Pflicht, sie leidet unter den Extremen zwischen Anpassung und Rebellion
  • Vipera berus (Kreuzotter) fühlt keine Existenzberechtigung. Sie leidet unter Schuldgefühlen und Gewissensbissen. Sie reagiert mit Totstellreflex: schweigen, Starrheit, Rückzug
    (In Anlehnung an die Bad Boller Seminare)

Dieser Artikel ist durch den Beitrag vieler Frauen (meinen Patientinnen, den Kolleginnen im Homöopathie-Arbeitskreis), dem Wissen der alten Weisen und meinen eigenen Interpretationen und Ahnungen entstanden. Ich freue mich, wenn er speziell uns Lachesis-Frauen zum Weiterforschen inspiriert!

Dieser Artikel ist in der Verbandszeitung LACHESIS Ausgabe Nr. 31, Seite 44 erschienen. Bestellung unter zeitschrift@lachesis.de möglich.